W E R B U N G
zurück zum Hausarzt alter Art


Der Hausarzt, der mich durch meine Kindheit bis ins jungen Erwachsenenalter hinein begleitet hat, hatte so etwas vom Druiden Miraculix aus Asterix und Obelix an sich. Mit seinem weißen Bart (mit dem er wahrscheinlich schon auf die Welt gekommen war - zumindest kannte ihn niemand ohne diesen weißen Bart) und seiner ruhigen und besonnen Art, stellte er den Fels in der Brandung dar, auf den sich nicht nur meine Familie, sondern zahlreiche andere Einwohner unseres damals noch relativ kleinen und überschaubaren Städtchens vor den Toren Frankfurts verließen.

Obwohl Arztbesuche nicht gerade das sind, was man in seiner Freizeit am liebsten tut, ging es einem in Erwartung echter Hilfe und des einen oder anderen Seelentrosts meist bereits viel besser, wenn man nur schon den ersten Schritt in das Wartezimmer getan hatte. Für uns Kinder gab es meist erst einmal eines von diesen merkwürdigen klebrigen Kaubonbons, die in kleine silbrige Päckchen verpackt sind und die es heute wohl gar nicht mehr gibt. Für die älteren Semester war das Wartezimmer nicht einfach nur ein Wartezimmer, sondern ein Ort des Austauschs und der Kommunikation. Gerade bei den ganz Alten konnte ich mich später des Eindrucks nicht erwehren, dass sie nicht aufgrund körperlicher Beschwerden gekommen waren, sondern um die Einsamkeit zu bekämpfen. Aber aus welchem Grund auch immer: jeder war willkommen, jeder kannte jeden und es war für alles Zeit. Mit dem Eintritt ins Sprechzimmers änderte sich die Sachlage keineswegs: sobald Dr. B. die Türe hinter sich geschlossen hatte, war rasch klar, dass man nun alles draußen getrost vergessen und sich sicher zu sein konnte, dass der Arzt sich hier und jetzt nur um das geistige und leibliche Wohl des Patienten kümmerte.

Die eigentliche Untersuchung begann auch nicht mit der körperlichen Diagnose, sondern die erste Frage lautete: wie geht es der Familie? Was macht die Oma? Wie war die Heirat der Kusine? Wie weit ist der Bruder mit seinem Abitur und, und , und.... Dann erst tastete sich Dr. B. zum eigentlichen Grund des Besuchs hervor und manches Mal hatte ihn das intensive Fragen bereits auf eine heiße Spur gebracht, noch bevor man selbst überhaupt irgendwas etwas vom eigentlichen Problem hatte verlauten lassen. Wenn dann aber endlich die körperliche Untersuchung anstand, so war sie überaus gründlich und vieles, was manch ein Allgemeinmediziner heute den Fachärzten überlässt, ließ sich Dr. B. nicht aus der Hand nehmen, sondern machte sich zunächst ein eigenes Bild.


Für seine Patienten war er immer da. Rund um die Uhr und zu jeder Tag und Nachtzeit. Als es meiner Mutter einmal nachts sehr schlecht ging und sie mit meinem Vater um 3 Uhr zum Luft schnappen auf die Straße hinaus ging, trafen sie prompt auf Dr. B., der gerade seinen Dackel ausführte und meine Eltern sofort zu sich hineinebat, um rasch eine Krisenintervention einzuleiten. Man könnte nun meinen, dass Herr Dr. B. ziemlich überarbeitet gewesen sein musste. Aber das genaue Gegenteil schien der Fall gewesen zu sein: nie sah ich ihn mürrisch oder übermüdet, sondern immer voller Elan, bis ins hohe Alter von Mitte 80, als er sich doch schweren Herzen entschloss, seine Praxis aufzugeben.


Und wie ist es heute? Mit meinen knapp 30 Jahren bin ich bei weitem kein alter Mann und trotzdem hört es sich so an, als stammte diese nette Geschichte aus den Zeiten der Jahrhundertwende oder sei direkt der Feder eines James Herriot entwichen, der das romantische Bild eines Landtierarztes beschreibt - natürlich auf die menschliche Ebene bezogen. Wer heute eine schwere oder chronische Erkrankung hat und sich nicht nur wegen eines Schnupfen behandeln lassen möchte, der benötigt anscheinend nicht nur ein dickes Portemonnaie, sondern auch einen langen Atem. In den Worten von Oliver Sacks: „Patient sein, heißt geduldig sein.“ Oft beginnt eine unendliche Odyssee durch die verschiedenen Praxen bis sowohl eine Diagnose, als auch eine adäqutes Gegenmittel gegen das entsprechende Wehwehchen vorliegen, weil oft genug nicht die Zeit ist, um richtig hinzuhören und hinzusehen. Das kostest nicht nur die Gemeinschaft derer Geld, die brav ihr Geld zur Krankenkasse tragen, sondern es kostet auch reichlich Nerven. Letzten Endes landet man dann doch in einer Privatarztpraxis oder beim Heilpraktiker, weil hier ein völlig anderes Dienstleistungsverhältnis möglich ist.


Wie oft habe ich es schon erlebt, dass der Arzt mit wehenden Rockschößen in das Sprechzimmer flatterte und durch seine hellseherischen Fähigkeiten aus drei Metern Entfernung über seinem Schreibtisch hinweg eine 2-Minuten-Diagnose stellte, um mich dann rasch mit freundlichem Nachdruck wieder hinaus zur Arzthelferin zu befördern, wo das Rezept bereits fertig ausgedruckt lag. Pech ist es, wenn dabei wichtige Informationen unter den Tisch fallen, wie zum Beispiel, welche Medikamente oder Krankheiten man von vornherein zusätzlich in die Sprechstunde mitbringt, so dass es mit den neu verschriebenen Medikamenten zu unter Umständen lebensbedrohlichen Interaktionen kommt. Solche Dinge kamen bei Dr. Br. beispielsweise nicht vor, kannte er doch meist die komplette Familie und die Geschichte jedes einzelnen Familienmitglieds. Natürlich ist das zur heutigen Zeit nur noch in begrenztem Ausmaß möglich, sind die Familien doch selten in so unmittelbarer Nähe zu einander anzutreffen. Aber es muss doch möglich sein, wenigstens einen kleinen Schritt in diese Richtung zu gehen und die Macht des Wortes als Arzt für sich zu nutzen, um auf diese Art schon vorab den Heilungsprozess einzuleiten. Soviel Zeit muss einfach sein.

Eine weitere beliebte Taktik scheint es, ein unerklärliches Symptom, für das man keine Erklärung findet als austherapiert oder reine Psychosomatik zu verkaufen, weil weder Zeit (bei machem auch Lust) noch das dafür nötige Budget vorhanden sind, um Ursachenforschung zu betreiben. So bekam ich von zwei der unzähligen Ärzte, die ich bereits besuchen durfte die Empfehlung, mich doch an einen Heilpraktiker zu wenden. Sie könnten zwar auch leisten, was der Heilpraktiker täte, aber dafür reiche das Budget eben nicht. Auch das kann und darf nicht sein.


Oft genug scheint der eine oder andere unter den professionellen Helfern kurz vor dem Burnout zu stehen in seinem Anspruch, allen Widrigkeiten zum Trotz, seine Patienten gut zu versorgen und seinen Heilauftrag ernst zu nehmen. Zu den Widrigkeiten gehören die scheinbar unendlichen und nervtötenden bürokratischen Fallstricke, die man als Patient zwar nur am Rande mitbekommt, die mir persönlich alleine vom Zuhören den Puls hochtreiben. Der letzte Allgemeinmediziner, bei dem ich in Behandlung war, war nicht nur ein prima Kerl, sondern auch sehr gewissenhaft und kompetent. Allerdings schien er immer einen Schritt vor der Erschöpfungsdepression zu stehen: er traf morgens um kurz vor 7 in die Praxis ein, nach wenigen Stunden Schlaf, weil er zu einem nächtlichen Notfall gerufen worden war. Wenn dann um kurz vor sieben Abends die letzten Patienten endlich die Praxis verließen, konnte er sich erstmals um das zusätzliche bürokratische Procedere kümmern, was den Tag über liegen geblieben war, um dann irgendwann ein paar Stunden später endlich den Heimweg anzutreten.


Ich wünsche mir also, dass die Entmündigung und Gängelung von Ärzten ein Ende findet, damit es ihnen wieder möglich ist, das zu tun, was eigentlich ihre Aufgabe ist, nämlich das Heilen. Nicht das Ausfüllen von merkwürdigen Berichten, nicht das Quittieren von 10-Euro-Belegen und nicht das Rechtfertigen dafür, weshalb sie bei einem Patienten gerade das festgelegte Budget, das für jeden Einzelnen zur Verfügung steht, überschritten haben. Außerdem wünsche mir, dass jeder Arzt wieder etwas mehr Zeit für die eigene Psychohygiene findet, denn nur so kann er seine Arbeit tun und ich muss mir als Patient nicht Gedanken darüber machen, ob ich nun einen übermüdeten und frustrierten Arzt vor mir habe, der einfach nur noch versucht, durch den Tag und durch die unzähligen Patientenakten zu kommen.


Autor: Ignis Fatuus