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 Flucht aus Berlin 
 
 Allgemeinmedizin in der südbadischen Provinz
 
 
 Als Alleinverdiener einer Familie mit Kind war das nur knapp über dem Hartz-IV-Niveau
 liegende Einkommen eines Berliner Arztes in der ambulanten Weiterbildung
 zum Allgemeinmediziner nicht mehr tragbar. Auch in punkto Wertschätzung („ich
 beschäftige Sie nur, weil Sie mich weniger kosten als eine Putzfrau“, Originalzitat
 einer Berliner Praxisärztin gegenüber ihrem Arzt in Weiterbildung) ließen die Arbeitsbedingungen in der
 Bundeshauptstadt zu wünschen übrig.
 Umso froher war ich über ein sehr viel versprechendes Angebot aus der
 südbadischen Provinz. Obwohl ich erst seit zwei Wochen hier bin und erst seit einer
 Woche arbeite, kann ich schon folgendes feststellen:
 Die negativen Dinge sind schnell erzählt: Es ist ein komisches Gefühl, in einem Dorf
 zu leben. Wenn ich mit meiner spanischen Frau und meinem Zopf durch die Straßen
 gehe, gucken uns alle noch an wie bunte Hunde. Es ist Pflicht, jeden auf der Straße
 zu grüßen und wenn man erst mal als „Dodger“ identifiziert ist, hat man nirgends
 mehr Freizeit. Das erste nachmittägliche Klingeln an der privaten Haustür mit Bitte
 einer Nachbarin, ihr die Zecke vom Gesäß zu entfernen, habe ich schon hinter mir.
 Konstanz, das nächste, was sich hier mit Fug und Recht Stadt nennen kann, ist nur
 binnen einer Stunde über eine buckelige Landstraße zu erreichen. Ein kleiner
 abendlicher Abstecher ins Kino oder eine Einkaufstour wird zur größeren Reise.
 Überall sind Insekten, kaum steht das Fenster fünf Minuten auf, sind schon drei Fliegen
 hereingesummt, was in Berlin dank der Abgase nicht passieren konnte.
 All dies wird aufgewogen durch die wunderschöne Umgebung: wir sind umgeben von
 intensiv grünen Wäldern und Wiesen, von den Burgen des Hegaus auf ihren spitzen
 Vulkanfelsen, in der Ferne sieht man bei gutem Wetter die schneebedeckten Gipfel
 der Schweizer Alpen. Fast für jedes Wochenende meines Jahres hier bietet die
 Umgebung ein anderes Ausflugsziel, genannt seien nur die Rheinfälle, der
 Schwarzwald, die Bodensee-Inseln Mainau und Reichenau, die Städtchen
 Schaffhausen und Stein am Rhein in der Schweiz…
 Doch am meisten gelohnt hat sich der Wechsel wegen meiner beiden Weiterbilder:
 zwei Alt-68er, beide mit Lehrauftrag an der Uni Freiburg und langjähriger Erfahrung
 in der Entwicklungshilfe in Afrika. Die beiden geben ihr Wissen gerne weiter, Fragen
 sind jederzeit erwünscht, und jeden Mittwoch findet eine Weiterbildungsbesprechung
 statt. Am Anfang wurden klare Lernziele definiert. Das Spektrum der Praxis ist enorm
 vielseitig und reicht von Geriatrie (im Nachbarort ist ein riesiges Pflegeheim), bis zu
 viel Pädiatrie und täglich mindestens ein bis zwei kleinen Operationen (Wunden, Emmert-
 Plastiken etc.). Der Weg zu den Spezialisten ist weit, hier ist der Hausarzt noch
 primärer Ansprechpartner für alle gesundheitlichen Probleme. Überwiesen wird nur
 mit gezielten Fragestellungen, Ärztehopping wie bei Berliner Patienten, die sich zu
 Beginn des Quartals sieben Überweisungen ausstellen lassen, gibt es nicht. Das
 Verantwortungsgefühl meiner Chefs gegenüber ihren Patienten ist sehr hoch,
 schwerkranke Patienten werden wöchentlich zu Hause besucht. Aus Berlin war ich
 maximal ein bis zwei Hausbesuche pro Quartal gewohnt „weil man ja sonst ein Minus macht“.
 Pharmavertreter müssen draußen bleiben. Nur die Vertreter von Generikafirmen dürfen ihre
 Proben am Eingang abgeben. Jede Therapieentscheidung muss anhand von
 industrieunabhängigen Quellen (z.B. Arzeimitteltelegramm, DEGAM-Leitlinien)
 begründet werden.
 Mein erstes Gefühl sagt mir also, dass sich mein Umzug sowohl in Bezug auf
 Lerninhalte als auch in Bezug auf Wertschätzung und Einkommen mehr als gelohnt
 hat. Ich rate allen, die nicht aus privaten Gründen an Berlin gebunden sind, auch mit
 ihren Füßen abzustimmen.
 
 Autor: Dr. Heuteufel
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